Die Jahrhundertgrippe von 1918/19 in Zeiten von Corona

Veröffentlicht am 18.5.2020, zuletzt geändert am 31.1.2024 #Zeitgeschichte

Im Zusammenhang mit dem Corona-Virus wird häufig an die Spanische Grippe erinnert – die verheerendste Pandemie der Moderne. Ein Vergleich lohnt sich. Denn wie sich zeigt, waren die damaligen Verhältnisse gänzlich anders: Heute bewegen sich medizinisches Wissen, länderübergreifende Zusammenarbeit und koordinierende Massnahmen auf einem völlig anderen Niveau.

Krankheit und Krieg

Die Spanische Grippe erreichte Europa im Frühjahr 1918. Obwohl der Verbreitungsweg und die Herkunft der Seuche nach wie vor umstritten sind, waren es wohl amerikanische Soldaten, die bei ihrer Landung im Süden Frankreichs das Virus nach Europa trugen. Der Ausbruch fiel in die Endphase des Ersten Weltkriegs und traf insbesondere in Europa auf eine von Krieg, sozialer Not, Hunger und politischen Krisen gezeichnete Bevölkerung.

Zuletzt forderte die Pandemie weltweit deutlich mehr Opfer als der Grosse Krieg. Bald waren nicht nur die kriegführenden Staaten USA, Frankreich, Grossbritannien und Deutschland von der Grippe betroffen, sondern auch neutrale Staaten wie Spanien. Dort gab es im Gegensatz zu den Kriegsstaaten keine Nachrichtensperre und eine weniger strikte Zensur. Entsprechend berichtete die spanische Presse als eine der ersten offen über die Ausbreitung der Grippe, mit dem Resultat, dass sich zumindest in den europäischen Ländern rasch die Bezeichnung “Spanische Grippe” durchsetzte.

Kinder im umgewandelten Notspital in Pratteln, 1918
Abb. 1: 1918 wird das Schulhaus Grossmatt in Pratteln zum Notspital (© Staatsarchiv Basel-Landschaft).

Ausbruch trotz umfassender Grenzsperre

Wann die Grippe zum ersten Mal in der Schweiz auftrat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Denn wie das Schweizerische Gesundheitsamt später festhielt, war es aufgrund der unspezifischen Symptome anfangs “geradezu unmöglich”, die Krankheit als “wahre Influenza” bzw. eben jene “Spanische Grippe” zu erkennen.

Erste Fälle wurden Ende Juni/Anfang Juli 1918 unter Angehörigen der Grenztruppen in der Nähe von Bonfol dokumentiert. Dort stiess die Französisch-Deutsche Front an die Schweizer Grenze. Trotz umfassender Grenzsperre erkrankten zeitgleich auch Soldaten in Basel und an verschiedenen weiteren Orten der Westschweiz. Wahrscheinlich gab es aber bereits erste weniger gravierende Fälle im Mai. Von der ersten Grippewelle waren vor allem die Bevölkerung in der Westschweiz und dienstleistende Armeeangehörige der Grenztruppen im Jura betroffen. Der rasche Anstieg der Todesfälle im Juli zwang die militärische Führung dazu, Kurse abzusagen und die auf Anfang August angesetzte Ablösung der Grenztruppen auf Anfang September zu verschieben.

Nachdem die Zahl der Grippeerkrankungen in den Monaten August und September zurückgegangen war, wurde die Schweiz im Oktober und November von einer zweiten, heftigeren Welle erfasst. Diese grassierte vorerst in den städtischen Zentren des Mittelandes und dann mit voller Wucht in der Zentralschweiz. Tendenziell war die Grippesterblichkeit in den peripheren Räumen und in den Agglomerationen höher als in den städtischen Zentren.

Illustration im Nebelspalter: eine Menschengruppe steht vor dem Schild "Grippe - Mitbürger! Keine Versammlung - Keine Theater"
Abb. 2: Satire in dunklen Zeiten: Der Nebelspalter vom 2. November 1918.

Rund 50% Infizierte

Über die Zahl der in der Schweiz an Grippe erkrankten Personen herrscht bis heute keine Einigkeit. Gemeldet wurden zwischen Sommer 1918 und Sommer 1919 insgesamt 745’000 Personen, was beinahe 20 Prozent der damaligen Bevölkerung entsprach.

Die Forschung vermutet jedoch eine Dunkelziffer von mindestens noch einmal so vielen Infizierten: Insbesondere jene Patienten, die nie einen Arzt aufgesucht haben, und jene, die den Gesundheitsbehörden nie gemeldet wurden, weil die gänzlich überlasteten Ärzte dazu nicht mehr in der Lage waren. Zudem sind die Symptome der Spanischen Grippe ziemlich unspezifisch und gleichen verschiedenen anderen Atemwegserkrankungen; entsprechend schwierig war zur damaligen Zeit die Diagnose, was die Statistik weiter verzerrte. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren ging das schweizerische Gesundheitsamt in seiner Bilanz davon aus, dass rund die Hälfte der damals in der Schweiz lebenden Bevölkerung oder ca. 2 Millionen Menschen 1918/19 an der Influenza erkrankten.

Mit rund 24’500 Grippetoten gilt die Spanische Grippe als die “grösste demografische Katastrophe der Schweiz” im 20. und 21. Jahrhundert. Alle Kantone waren von der Pandemie betroffen, auch wenn die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen teilweise erheblich waren, und in allen Kantonen mit Ausnahme des Tessins starben mehr Männer als Frauen. Deutlich am stärksten traf es die kräftigste und vitalste Bevölkerungsgruppe der 20- bis 40-jährigen, wohingegen es in der sonst besonders gefährdeten Risikogruppe der Kinder und älteren Menschen zu weitaus weniger Todesfällen kam.

Im Kanton Basel-Stadt forderte die Spanische Grippe 760 Todesopfer und im Kanton Basel-Landschaft 470. Mit 5,4 bzw. 5,7 Promille der Bevölkerung lagen die beiden Halbkantone unter dem landesweiten Durchschnitt von 6,3.

Fehlende behördliche Koordination

Regierung und Gesundheitsbehörden waren schlecht auf die Pandemie vorbereitet. Der seit vier Jahren dauernde Krieg richtete die Aufmerksamkeit der politisch Verantwortlichen primär auf wirtschaftliche, soziale und militärische Belange. Gesundheitspolitik gehörte nicht zu den dringlichsten Geschäften. Hinzu kam, dass die Behördenvertreter die Lage zu Beginn zu optimistisch einschätzten. Die Verantwortlichen im Schweizerischen Gesundheitsamt gingen Anfang Juli von einem mehr oder weniger harmlosen Verlauf aus.

Der damals in gesundheits- und seuchenpolitischen Fragen vorherrschende Föderalismus behinderte ein zielgerichtetes Handeln von staatlicher Seite. Stattdessen übertrafen sich Kantone und Gemeinden mit widersprüchlichen Massnahmen. Bis ein koordinierter, auf der Basis von internationalen Absprachen verfasster Pandemieplan vorlag, sollte es bekanntlich noch bis ins 21. Jahrhundert dauern.

Mit dem Bundesratsbeschluss vom 18. Juli 1918 erhielten Kantone und Gemeinden mehr Gestaltungsfreiheit, um kulturelle und religiöse Veranstaltungen zu untersagen und Ansammlungen von Personen aufzulösen. Doch dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die Unruhe in der Bevölkerung bereits weit fortgeschritten und der Höhepunkt der Sommergrippe in der Armee schon erreicht war. Die Presse heizte die Gerüchteküche eher an als sie mit gezielten Informationskampagnen einzudämmen.

In dieser Atmosphäre der Angst, Verunsicherung und Trauer wuchs im Sommer 1918 die Wut der Bevölkerung auf politische und militärische Entscheidungsträger. Diese entlud sich in der “Affäre Hauser”: der medialen Empörung gegen die sanitarisch-medizinischen Verhältnisse in der Armee beziehungsweise den dafür verantwortlichen Chef der Armeesanität, Carl Hauser.

Machtlose Medizin

Gegen die Wucht der Spanischen Grippe war die Medizin nahezu machtlos. Nach Hermann Sahli, Ordinarius für Innere Medizin in Bern und einer der damaligen Koryphäen auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten in der Schweiz, war die eigentliche Krankheitsursache der Influenza von 1918/19 noch nahezu unbekannt.

So herrschte die Lehrmeinung vor, dass die Grippe von Mensch zu Mensch in Form eines lebenden Organismus, einem Bazillus gleich übertragen würde und der mögliche Krankheitserreger mit den damaligen mikroskopischen Möglichkeiten nicht zu erkennen sei. Allgemein anerkannt war, dass der von Richard Pfeiffer vermeintlich entdeckte Influenza-Bazillus nicht der primäre Erreger sein konnte, aber ein herausragendes “sekundäres infektiöses Agens” bildete.

Unter Zeitdruck reagierten die Wissenschaftler durch eine konzeptlose Vielgeschäftigkeit. Die Medizin spricht in diesen Fällen von einer “Polypragmasie“: Angesichts fehlender erfolgsversprechender Therapien bedienten sich die klinischen Ärzte aller damals in der internationalen Forschung vorhandenen angebotenen Ratschläge zur Bekämpfung der Grippe und experimentierten mit allen erdenklichen Mitteln. Bei aller Hyperaktivität der Ärzte gab es aber auch Stimmen, die vor dem allzu stark experimentellen Charakter der Klinikversuche warnten. Andere Mediziner reagierten fatalistisch und warfen verschiedene, bis zu diesem Zeitpunkt angewandte Therapien über Bord.

Beides war Ausdruck wachsender Ohnmacht, die unter Medizinern – und nicht nur unter diesen – herrschte und bedrückende Gefühle der Unsicherheit hervorrief. Erschwerend kam hinzu, dass die kriegsbedingte Nachrichtensperre sowohl den wissenschaftlichen Austausch als auch ein gemeinsames grenzüberschreitendes Vorgehen verunmöglichte. Die internationale Zusammenarbeit bildete die unabdingbare Vorsetzung zur Entwicklung eines Impfstoffs. Davon konnten die Wissenschaftler des Ersten Weltkriegs jedoch nur träumen.

Institutionen, die eine solche Zusammenarbeit möglich machen, und heute einen unverzichtbaren Informationsfluss gestatten, sollten erst mit dem Völkerbund bzw. der UNO entstehen, und erst 1933 sollte es Wissenschaftlern gelingen, erstmals ein Influenza-Virus zu isolieren und zu bestimmen.

Grosse Gefahr für das Pflegepersonal

Unter enormen Druck stand auch das Pflegepersonal in Kliniken und Notspitälern und bei Heimbesuchen. Die meisten an der Grippe erkrankten Personen wurden zuhause betreut. Einige hundert Pflegerinnen halfen während der Grippepandemie zudem bei der Armee aus.

Die Diakonisse Lina Weber aus Riehen, die vor allem in der privaten Pflege tätig war, berichtet in ihren Erinnerungen, dass sie von September 1918 bis Anfang Januar 1919 bei acht Familien grippekranke Personen Tag und Nacht betreute und sich zwischen den einzelnen Pflegeetappen jeweils kurz im Diakonissenhaus erholte. Gleich wie die Ärzte bewältigte das Pflegepersonal von Sommer 1918 bis Frühjahr 1919 ein enormes Arbeitspensum. Dabei war es nicht nur einer grossen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt, sondern auch dem Risiko, selber zu erkranken.

Wie viele Pflegende an der Spanischen Grippe starben ist nicht bekannt. Doch allein im Diakonissenhaus in Riehen starben neun Schwestern an der Grippe. Weiter halfen 742 Pflegepersonen, die weitgehend vom Roten Kreuz gesucht und gestellt wurden, während der Grippepandemie bei der Armee aus. Von diesen 742 starben 69 an der Grippe – das waren weitaus mehr Todesopfer als die Grippe unter den Offizieren und Soldaten forderte, die von den Pflegenden betreut wurden.

Dem ungeachtet sind im kollektiven Gedächtnis der Schweizer Bevölkerung vor allem die verstorbenen Militärdienstleistenden verankert. Denn die Armeeleitung inszenierte die grippetoten Soldaten vor dem Hintergrund des Landesstreiks vom November 1918 zu Helden des Vaterlandes. Die weitaus grössere Zahl der verstorbenen Zivilisten geriet noch rascher in Vergessenheit.

Der Vergleich mit der Spanischen Grippe 1918/19 macht deutlich, dass einer Pandemie heute gänzlich anders begegnet werden kann als vor hundert Jahren. Dies darf beruhigen. Es zeigt aber auch, wie wichtig es ist, einer Pandemie mit der notwendigen Konsequenz zu begegnen.

Quellen

Literatur

Braunschweig, Sabine: “Opfer treuer Pflichterfüllung”. Der Einsatz des Pflegepersonals bei der Grippepandemie in Basel 1918 und 1919, in: BZGA 114 (2014), S. 143-166.

Kury, Patrick: Das Virus der Unsicherheit. Die Jahrhundertgrippe von 1918/19 und der Landesstreik, in: Rossfeld, Roman/Koller, Christian/Studer, Brigitte (Hg.): Der Landestreik. Die Schweiz im November 1918, Baden, S. 390-411.

Tscherrig, Andreas: Krankenbesuche verboten! Die Spanische Grippe 1918/19 und die kantonalen Sanitätsbehörden in Basel-Landschaft und Basel-Stadt, Liestal 2016.

Abbildungen

Abb. 1: Staatsarchiv Basel-Landschaft, PA 6466 03.01.05-02.

Abb. 2: Fritz Boscovitz, Illustration “Unbeabsichtigte Wirkung”, Nebelspalter Nr. 44 (2. November 1918).

Autor*in

Patrick Kury ist Co-Leiter von Stadt.Geschichte.Basel und Titularprofessor an der Universität Luzern.