Poststelle mit Präzisionswaage: Drogenpolitik im Basel der 1990er

Veröffentlicht am 6.5.2019, zuletzt geändert am 31.1.2024 #Zeitgeschichte

Basel Anfang der neunziger Jahre: Am Schaffhauser Rheinweg und am Barfüsserplatz versammeln sich immer mehr Süchtige auf der Suche nach Stoff und Spritzen. Mit ihnen wird offensichtlich, was Fachleuten schon länger klar ist: Die Repression von Drogen ist keine Lösung, denn Drogensüchtige sind nicht per se kriminell, sondern aus medizinischer Sicht krank. Dass sie mit Mitteln des Strafrechts belangt werden, löst das Problem nicht, sondern schafft im Gegenteil neue.

Die ehemalige Poststelle Güterstrasse 18
Ehemalige Poststelle Güterstrasse 18. Bild: Hannes Herrmann

Ein Zürcher in Basel

Der Arzt Michael Nüscheler verschrieb damals in Basel Methadon und hörte von einem Vortrag von André Seidenberg von der Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Risikofreien Umgang mit Drogen ARUD. Er organisierte kurzerhand einen Ausflug nach Zürich. Zusammen mit anderen Basler Ärztinnen und Psychiatern sahen sie sich das Zürcher Opiat-Konsumlokal Zokl an. Die ARUD Zürich hatte es 1991 eröffnet, um so den Auswüchsen auf dem Platzspitz und später am Letten entgegenzuwirken. Noch auf der Rückfahrt beschloss die Gruppe, ein ähnliches Lokal in Basel einzurichten, um kontrolliert Methadon an Heroinabhängige abzugeben. Es wurde ein entsprechendes Lokal gesucht und gefunden, eingerichtet und kurz nach der Eröffnung überrannt: Am 12. März 1994 eröffnete an der Güterstrasse 18, in einer ehemaligen Poststelle, die erste Methadonabgabestelle in Basel, das BADAL (Basler Drogenabgabestelle). Hin und wieder verirrte sich danach zwar ein früherer Postkunde in die Praxis, aber an den Schaltern wurden keine Päckchen mehr angenommen oder Briefmarken verkauft, sondern wurde mit einer computergesteuerten Präzisionswaage Methadon für immer mehr Patientinnen und Patienten abgegeben.

Der ehemalige Postschalter an der Güterstrasse 18
Ehemalige Poststelle Güterstrasse 18. Bild: Hannes Herrmann

Hilfe steht im Vordergrund

Die Schweizer Drogenpolitik verfolgte noch Anfang der neunziger Jahre Abstinenz als oberstes Ziel – entsprechend pionierhaft und nicht ganz unkompliziert war der Aufbau einer Drogenabgabestelle, und sei sie medizinisch noch so kontrolliert. «Der Wille zur Abstinenz sollte vom Patient kommen. Nur so kann ein Suchtkranker oder eine Suchtkranke erfolgreich abstinent werden», erklärt Roger Dreyfus, einer der Gründer, das Konzept des BADAL, das nach englischem Vorbild auf Schadensminderung und möglichst risikoarmen Umgang mit Drogen setzte. Rasch behandelte das BADAL mehrere hundert Patient/innen täglich und entwickelte sich zu einer Erfolgsgeschichte.

ein Fotogramm
Fotogramm. Simone Farner, Naima Schalcher

Zwar arbeiteten das BADAL und der Verein dahinter mit den Behörden eng zusammen, gleichzeitig war es den Gründern wichtig, keine staatlichen Subventionen zu beanspruchen. «Nur so blieben wir von der zeitweise wankelmütigen Politik unabhängig», erzählt Michael Nüscheler, Präsident der Stiftung für Drogenarbeit, die aus dem damaligen Arbeitsverein hervorgegangen ist.

Ein Basler Weg für die Schweiz

Die Methadonabgabestelle und ihr Ansatz wurden bald als «Basler Weg» bezeichnet, der später auch die nationale Drogenpolitik prägte. Thomas Kessler, damaliger Drogendelegierter der Stadt-Basel erklärt diesen so: «Der Basler Weg mit den vier gleichwertigen Säulen war möglich dank paradoxer Konstellationen und einem humanistischen Grundverständnis, das in bester Form zum Tragen kam. Während andere Städte teilweise bei einer schwachen Prävention, beschränkten Therapieangeboten und einer aufwendigen Repression blieben, war in Basel die Stärkung von Prävention und Therapie (u. a. mit vielfältigen Substitutionsprogrammen) und der Aufbau der Überlebenshilfe mit Gassenzimmern, Spritzenabgabe, niedrigschwelliger medizinischer Hilfe sowie Gassenküche, Tagesstrukturen und Notschlafstellen mehrheitsfähig. Die libertären Ansätze der FDP waren deckungsgleich mit den humanitären der Linken, das Grossbürgertum unterstützte den rationalen Ansatz.»

Die libertären Ansätze der FDP waren deckungsgleich mit den humanitären der Linken, das Grossbürgertum unterstützte den rationalen Ansatz.

1998 zog das BADAL von der Güterstrasse an die Haltingerstrasse, aus der ehemaligen Poststelle in eine ehemalige Sauerkrautfabrik: Hier begann eine neue Ära mit einer Arztpraxis im Hinterhof, zehn Wohnungen und einem breiten sozialdienstlichen Angebot. Heute agiert das ehemalige BADAL als Zentrum für Suchtmedizin seit über zehn Jahren unabhängig und wird von Axel Jochum geleitet. «Obwohl es heute viel mehr Angebote für Süchtige als vor 20 Jahren gibt, sind Süchtige heute nicht unbedingt besser in die Gesellschaft integriert», beschreibt er die aktuelle Situation.

ein Fotogramm
Fotogramm. Simone Farner, Naima Schalcher

Quellen

Publikation

Anfangs traf sich ein bunt gemischter Haufen – 25 Jahre BADAL. Stiftung für Drogenarbeit Basel SFD (Hg.), Basel 2019; mit einem Text zum Basler Weg von Thomas Kessler und einem Interview mit André Seidenberg.

Das Buch ist bei der https://www.sfdrogenarbeit.ch/ erhältlich.

Illustrationen

Fotogramme: Simone Farner, Naima Schalcher

Autor*in

Gina Bucher, Jahrgang 1978, lebt und arbeitet als Autorin und Redaktorin in Zürich. Zuletzt erschienen Der Fehler, der mein Leben veränderte (Piper 2018) und Nüwe Zyttungen (Scheidegger & Spiess 2018). Sie ist Teil des Redaktionskollektiv Rokfor und des Zeitverschwenden Report.